Während mein Gegenüber ein frisch gezapftes, würziges Bier in Händen hält, stelle ich ihm Fragen über den Inhalt mittelalterlicher Kloaken. Der gute alte Knigge wäre vermutlich mit schamesrotem Gesicht von dannen geeilt. Jan Kemker hingegen steht lächelnd neben der Theke und spannt den Bogen von archäologischen Ausgrabungen zum heutigen Bierbrauen nach alter Tradition.
Bodenfunde von Hofstellen, vor allem aber aus Kloaken, Schächten oder Brunnen, gaben nämlich den Archäobotanikern Auskunft über die Zusammensetzung von Bier, lange bevor das so genannte Reinheitsgebot galt.
Pflanzliche Reste können unter günstigen Bedingungen tatsächlich über viele Jahrhunderte im Boden erhalten bleiben. Dadurch ermöglicht diese eigenständige archäologische Fundgattung wichtige Erkenntnisse über die Ernährungsgeschichte des Menschen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit (nachzulesen hier).
„Was wurde damals gegessen, getrunken oder weggeworfen? Durch mikroskopische Untersuchungen von Pflanzenresten in Bodenproben konnten die Fachleute dies alles nachverfolgen. Zum Beispiel fand man in Münster Überreste von Gagel, Wacholder oder Hopfen“, erzählt Jan Kemker von der Rekonstruktion des ursprünglichen Bierbrauens in unserer Region. Er ist Inhaber der 2018 eröffneten Handwerksbrauerei Kemker aus Alverskirchen, deren Produkte mit dem Münsterland-Siegel ausgezeichnet sind.
Der 28-Jährige wandelt auf mittelalterlichen Pfaden, indem er die ursprüngliche Herstellung und Vergärung von Bier wieder kultiviert. Ein Ergebnis der vielfältigen Aktivitäten: Grutbiere. So hießen nämlich die Biere, die bis etwa ins 17. Jahrhundert in ganz Nordeuropa verbreitet waren. Grut wurde dabei wiederum die Kräutermischung genannt, die regional in unterschiedlicher Zusammensetzung, auch nach Vorlieben des Braumeisters, ihren Weg ins Getränk fand.
Mit Philipp Overberg von der Gruthaus-Brauerei Münster hat Jan Kemker solch ein Bier wiedererweckt: quasi das münstersche Ur-Bier mit Bestandteilen vom Gagelstrauch, Wacholder und Kümmel. Diese Spezialität, getauft Dubbel Porse, schenken Kemker und Overberg gerade im Akkord aus. Schließlich feiern sie den Internationalen Grutbier-Tag.
Bei der Begrüßung der Gäste bekennt Philipp Overberg lächelnd, dass der Abend „einem sehr, sehr speziellen Nischenthema gewidmet“ sei. Aber dieses Wissen um das alte Neue macht schließlich den Reiz aus. Ich höre heute jedenfalls zum ersten Mal, dass hinter dem Historischen Rathaus in Münster bis 1867 das Gruthaus angesiedelt war, in welchem die Grut hergestellt und verkauft wurde. Heute führt der damalige Standort, die heutige Gruetgasse, direkt am Platz des Westfälischen Friedens vorbei und fast jeder Münsterländer wird spätestens beim Weihnachtsmarkt (vermutlich unwissentlich) auf ihr geschlendert sein.
Nur einen Steinwurf entfernt, unter dem damaligen Parkplatz an der Stubengasse, förderten archäologische Grabungen der Denkmalbehörde vor etwa 20 Jahren spannende Erkenntnisse auch über das Bierbrauen in Münster zutage.
„In einem feuchten Hinterhofgelände wurden Abfall- und Auffüllschichten abgelagert, die archäologische Funde aus dem 15. Jahrhundert enthielten. Die Pflanzenreste dieser Schichten geben einen Einblick in die Ernährungs- und Umweltverhältnisse der Bürger Münsters während des Spätmittelalters“, heißt es im Überblick von Dr. Ralf Urz. Interessant sei der Nachweis von Hopfen und Gagel, welche vermutlich als Bierwürzen verwendet worden seien.
Da beim Grutbier-Tag neben allem historischen Bezug aber der Genuss im Vordergrund stehen soll, haben Jan Kemker und Philipp Overberg auch für passende, begleitende Speisen gesorgt. Der Pop-up-Gasthof „Zum brüllenden Brauer“ bietet einen Rinderschmortopf sowie Käse und Sauerteigbrote, unter anderem ein Roggenmischbrot aus Champagnerroggen vom Hof Schulze Westerhoff aus Havixbeck.
Aber was in aller Welt hat nun diese dem Huldigen von Kräuterbier gewidmete Veranstaltung in einer Kaffeebar verloren? Tja, da kommt Sven Hasenclever ins Spiel. Seines Zeichens passionierter Kaffeeröster mit eigener Herstellung in Amelsbüren, jedoch dem Experimentieren mit exquisiten Alkoholika durchaus zugetan. So hatte er zum Beispiel einen nicht gerade geringfügigen Anteil am Entstehen des Prütt Kaffee Gin, ebenfalls ausgezeichnet mit dem Münsterland-Siegel, oder dem 1766 Münsterländer Kaffeelikör.
Eine eigens für den Grutbier-Tag kreierte Spezialität mixt gerade Bartender Jens Albersmann: den Gageroni. Pate stand der klassische italienische Negroni, im Sinne des Abends wurde aber auch Gagel verarbeitet. Neben Prütt, rotem Wermut, Riesling und Zuckersirup findet sich im Gageroni Wodka mit Gagel-Infusion.
„Zwölf Stunden wird der Gagel in Wodka eingelegt, dadurch lösen sich die Bitterstoffe“, erklärt Jens Albersmann, der gerade die Zitronenzeste, sprich Schale, über dem Cocktail zerdreht. „Dabei lösen sich die ätherischen Öle und setzen sich ab. So wird der Drink auf ein ganz anderes Level gebracht. Mit Zitronensaft würde er zum Beispiel gar nicht schmecken.“
Da dieser Drink, ebenso wie der Gruit Cold Drip Gin Tonic, quasi nur Alkohol enthält, ist er aber wohl nicht für jeden geeignet? Jens Albersmann lacht: „Ja, er ist sehr kräftig und speziell. Es geht ja um den besonderen Genuss – ich würde also nicht mehr als zwei empfehlen.“
Die Gäste würden sicherlich am liebsten jede Spezialität der exquisiten, für diesen Abend ausgetüftelten Karte probieren. Dementsprechend schwer fällt einigen die Entscheidung an der Theke: Vielleicht ein belgisches Bier mit Löwenzahnblüten, vergoren im Rotweinfass oder doch lieber ein nordfriesisches Gruit Ale mit Heidekraut und Wacholderzweigen?
So oder so, der Abend steht wahrlich im Zeichen des Genusses und ich werde Jan Kemker sicherlich demnächst mal beim Brauen in Alverskirchen über die Schulter schauen. Abklären muss ich nur, ob es, wie ich las, einen Zusammenhang zwischen den Pollenallergien ausgelöst durch Erle, Hasel und Gagel gibt. Wie gut, dass die die Münsterländer des Mittelalters nicht von solch neuzeitlichen Problemchen geplagt wurden.
Der anregende Abend in der Kaffeebar endet schon um 22 Uhr, aber Jan Kemker und Philipp Overberg haben für die vielen Interessierten, die noch nicht nach Hause gehen wollen, eine Überraschung parat: Die fast 30 Teilnehmer spazieren durchs Kreuzviertel und die Innenstadt bis zum Standort des historischen Gruthauses, wo Philipp Overberg eine imaginäre Führung durch das vor 150 Jahren abgerissene Gruthaus improvisiert.
Genau wie die Gäste des Events bin auch ich gespannt, welchen Platz sich das wieder zum Leben erweckte Grutbier in der modernen Bierwelt erobern wird.
Viele weitere Infos hier: startnext.com/kemker
Text und Fotos: Miriam Lethmate