
Während der wuchtige Traktor gemächlich auf uns zurollt, drücke ich mich ein bisschen enger an das Stallgatter. Mit meinen 1,65 bin ich gefühlt keinen Kopf größer als der Reifen mit seinem faustdicken Profil. Lisa Dieckmann steht neben mir und erklärt die Arbeitsschritte ihres Mannes Hendrik, der den Traktor eng an den neugierigen Köpfen der Kühe entlang manövriert. Aus einer Klappe fällt duftendes Futter. Die Sicht direkt vor der Begrenzung des Offenstalls ist einfach am besten: Laut schmatzend und schnaubend graben rund 60 Kühe ihre Köpfe tief in die Futterberge auf dem so genannten Futtertisch, um die schmackhaftesten Bissen zu erwischen. Es ist Frühstückszeit auf dem Milchhof Dieckmann in Münster-Gievenbeck.
Jeden Morgen erhalten die 65 Kühe und deren weibliche Nachzucht, auch nochmal 60 Tiere, das von Hendrik Dieckmann frisch zubereitete Futter. 3,5 Tonnen! Eine nahrhafte Protein-Energiemischung, bestehend aus Mais- und Grassilage, gemahlenem Stroh und Körnermais sowie einem Rapsschrot-Kraftfutter und Mineralen. Die Bestandteile werden unter Zugabe von Wasser – dieses bindet das Kraftfuttermehl mit den anderen Komponenten – im Futtermischwagen vermischt. Den Großteil des Futters baut die Familie selber an.
Genüsslich verleiben sich die Tiere ihr Futter ein, während das junge Ehepaar vom Leben auf dem Hof erzählt. Vor anderthalb Jahren übernahm der staatlich geprüfte Agrarbetriebswirt den Betrieb von seiner Mutter. Doch bereits 2014, als damals 23-Jähriger, begann Hendrik hauptberuflich im elterlichen Betrieb, um das Vermächtnis seines Großvaters weiterzuführen.
Am jetzigen Standort in Gievenbeck betreibt die Familie ihren Milchvieh- und Ackerbaubetrieb seit fast 70 Jahren. Vorher brachte ein großes Projekt eine noch größere Veränderung, obwohl die Familie eigentlich unbeteiligt war: Hendriks Großvater betrieb Landwirtschaft genau dort, wo heute der münstersche Aasee liegt. Aufgrund dieses gewaltigen Bauprojektes wurde der Hof Ende der 1950er Jahre von der Mecklenbecker Straße nach Gievenbeck umgesiedelt.
Im Laufe der Zeit änderte sich auch die Arbeit mit den Tieren. Während Hendriks Opa noch 30 Kühe in Anbindehaltung hielt und die Milch per Kutsche an Krankenhäuser und Altenheime auslieferte, schwenkten seine Eltern in den 80ern auf die Haltung im Boxenlaufstall um. Auf Hendriks Betreiben hin wurde dann 2014 ein neuer Offenstall gebaut und mit einem Melkroboter ausgestattet.
„Kühe sind absolute Gewohnheitstiere. Total neugierig, aber feste Zeiten sind ihnen wichtig. Jede Kuh hat ihre Vorlieben, wann sie gemolken werden will, manche sogar nachts“, erzählt der Landwirt, während hinter uns weiterhin entspanntes Schmatzen und Malmen ertönt.
Der Melkroboter zeichnet über den Chip im Halsband der Tiere alle Daten auf, errechnet die Milchmengen und zeitlichen Abstände. Zudem ist ein Aktivitätsmesser am Halsband angebracht, der die Phasen der Kühe festhält. An diesen Kurven, ob Aktivität oder Minderaktivität und die Schwankungen dazwischen, kann Hendrik Dieckmann das Wohlbefinden seiner Tiere genau ablesen. „Natürlich ist in der Brunst oder vor Kalbungen viel los. Wenn die Kurve nach einer Ruhephase steil hoch geht, weiß ich, dass das Kalb wahrscheinlich in den nächsten zwölf Stunden kommt.“
Sind die Linien aber sehr gegenläufig, weil eine Kuh zum Beispiel viel liegt oder nicht zum Melken geht, könne man sofort eingreifen. „Die Listen werden morgens als erstes kontrolliert. Bei Auffälligkeiten kann ich sofort tätig werden. So hat man es direkt im Blick, sollte mal ein Fuß oder ein Euter entzündet sein. Das Tierwohl ergibt sich aus einem guten Zusammenspiel von Mensch und Technik.“
Die Offenheit für neue Ideen und deren schnelle Umsetzung zeichnet die junge Familie aus – einfach machen, einfach mal ausprobieren. Und der Erfolg gibt ihnen Recht: Als zum Beispiel der Preis für Rapsschrot in die Höhe schoss, baute Hendrik dieses Jahr zum ersten Mal Ackerbohnen an. Diese sind proteinreich, in der Pflege anspruchsloser und werden das Futter nun als Eiweißfutter und Rapsschrotersatz bereichern.
Den trockenen Böden wirkt der Landwirt mit einem Gülledepot-Band entgegen, auf dem er den Mais legt. So muss dieser nur nach unten wachsen, die Nährstoffe sind direkt vorhanden und der Boden trocknet deutlich weniger aus: „2022 konnten wir die Maisernte trotz der Trockenheit auf Ende September legen – und die Maiskolben waren deutlich größer.“
Eine der besten Gelegenheiten, die Hendrik und seine Frau Lisa beim Schopf packten, war der Kauf des ersten Milchautomaten von einem Nachbarn, der seine Michwirtschaft aufgegeben hatte. Seit fünf Jahren empfängt die Hofbesucher hinter der gerade traumhaft blühenden Wildblumenwiese die Milchtankstelle. Angefangen mit jenem ersten Automaten konnte Hendrik Dieckmann vor kurzem den sechsten installieren. In Gievenbeck und Umgebung ist das Häuschen mit den vielen regionalen Produkten längst kein Geheimtipp mehr.
Ausgestattet mit einer glänzenden Milchkanne, die auch meine Oma in dieser Art besaß, geht eine Kundin gerade zielstrebig zum hinteren Automaten. In diesem befindet sich die frische, auf 4° C gekühlte, gentechnikfreie, unbehandelte Rohmilch. „Ich bin Stammkundin und habe mir diese Kanne extra im Gastrobedarf gekauft. Die Milch schmeckt absolut lecker“, sagt die Kundin, während sie mit drei, vier gezielten Handgriffen ihre Milch zapft.
Dass man an allen Automaten nur mit Bargeld bezahlen kann, ist bekannt. Ebenso, dass die Dieckmanns mittlerweile leider eine Überwachungskamera anbringen mussten, da einige wenige Leute das Bezahlen auf Vertrauensbasis dreist ausnutzten und sogar eingebrochen wurde. „Aber der allergrößte Teil der Kundschaft hält sich an die Spielregeln. Im Sommer kommen die Kinder aus der Nachbarschaft gerne für ein Eis und die Eltern nehmen Grillfleisch mit.“
Denn auch im Bereich der Fleischproduktion haben Dieckmanns den Versuch gewagt. Die große Nachfrage hat das Konzept nun etabliert: Hendrik, der Eigenbestandsbesamungen durchführen darf, kreuzte zwei weibliche Tiere mit einer männlichen Fleischrasse. Nach langer und ruhiger Aufzucht der Tiere fand die Schlachtung in Anwesenheit des Amtstierarztes auf dem Hof statt. So werden die Tiere keinem Transportstress ausgesetzt, was sich in der Fleischqualität deutlich zeige, sagt Hendrik. Die traditionelle, handwerkliche Verarbeitung übernahm die Familie Bonkhoff von Davert Meat in Ascheberg.
Sowohl die Rohmilch als auch das Fleisch sind daher mit dem Münsterland-Siegel ausgezeichnet, da die komplette Produktion am Hof bzw. im Münsterland stattfindet. „Wir haben viele Stammkunden, die aus der Rohmilch ihren eigenen Käse oder Joghurt machen. Da ist es keine Seltenheit, dass manche mit großen Gefäßen auf den Hof kommen“, erzählt der Landwirt.
Neben den hofeigenen Produkten bietet die Familie viele weitere regionale Produkte in den Automaten an, beispielsweise Honig aus der Imkerei Gerdes oder Brotbackmischungen vom Hof Schulze Westerhoff. Beide Betriebe sind ebenfalls mit dem Münsterland-Siegel ausgezeichnet. Kartoffeln, Eier, Limonaden, Plätzchen, Eis, Nudeln oder Eingemachtes stehen in den Automaten bereit: 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr.
Es sind jene Verbundenheit zur Region und die Transparenz, mit der der Hof bewirtschaftet wird, die regelmäßig nicht nur die Kundschaft anlockt, sondern auch viele Kinder. Eine Kooperation mit umliegenden Kindergärten und die Mitarbeit beim Projekt „Landwirtschaft macht Schule“ gibt der Familie die Möglichkeit, ihr Wissen an die Kinder weiterzugeben. Mit großer Freude säen die Kinder aus den benachbarten Kitas jedes Jahr die Blühwiese direkt am Hof ein, um dann im Verlauf des Frühlings und Sommers staunend vor der wachsenden, summenden Blütenpracht zu stehen.
„Den Kindern zu zeigen, wie aus einem kleinem Samen eine große Sonnenblume werden kann, welche dann für die Insekten Nahrung bietet, macht große Freude“, sagt Hendrik Dieckmann, der mit seiner Familie das Wissen um Landwirtschaft, Natur und Herkunft der Lebensmittel an die nächste Generation weitergeben möchte.
Die Kleinen können hautnah miterleben, wie sich die Kühe im offenen Stall oder beim freien Weidegang verhalten, können die Kälber bewundern und die beiden Zwergziegen, Zwergschafe und Hühner füttern. Ein kleiner Futterautomat hängt direkt am Zaun.
Wer ganz viel Glück hat, erlebt vielleicht sogar die Geburt eines Kälbchens mit – ich hab’s knapp verpasst. Die kleine „Edda“ wurde am Tag nach meinem Besuch in die Herde geboren. Diesen Namen haben die Instagram-Follower aussuchen dürfen, aber auch der sechsjährige Junior hat schon viele Namen beigesteuert. Während der morgendlichen Fütterung waren mir zum Beispiel zwei besonders forsche Kühe aufgefallen. „Ja, das ist typisch Elfina. Und die andere heißt Laura, nach meiner Schwester“, sagte Lisa Dieckmann grinsend. Es gebe kein Familienmitglied, dessen Name noch nicht an eine Kuh vergeben worden sei. Na, das ist doch mal Familiensinn. Auf dem Hof läuft eben alles nach dem Motto „Landwirtschaft hautnah erleben“.
Text und Fotos: Miriam Lethmate