
Es sind diese wunderbaren kleinen Momente. Sie verschlagen einem kurz die Sprache und zeigen, worauf es im Leben eigentlich ankommt. Solch einen Moment durfte ich im Gespräch mit Anne Vriesens Trainerin Maria Parthe erleben.
Anne (34) ist Mitarbeiterin der Eis Lounge Maria Veen – und vor allem leidenschaftliche Läuferin. Während ihrer Ausbildung zur Hauswirtschafterin im Berufsbildungswerk des Benediktushofs entdeckte sie die ausgleichende Kraft des Laufens für sich. Und dort entdeckte auch ihre Gymnastiklehrerin Maria Parthe das Talent der sportlichen jungen Frau. Der Benediktushof in Reken ist ein Dienstleister für Menschen mit Körper- und Mehrfach-Behinderungen und psychischen Einschränkungen und eine Tochter der Josefs-Gesellschaft Köln.
Fleiß und Einsatz
Nicht unerheblich wichtig bei Anne Vriesens Geschichte ist ihre schwere Hörschädigung aufgrund einer neuropsychomotorischen Entwicklungsstörung. Ich halte im Gespräch mit Maria Parthe kurz inne und frage mich, ob es verletzend wäre, wenn ich sage: „Das merkt man ihr kaum an!“ Denn tatsächlich fußt unser Gespräch auf Annes überragender Leistung bei den Special Olympics National in Berlin, die für Menschen mit Handicap ausgerichtet werden. Maria Parthe lacht. „Nein, das können Sie ruhig sagen, es stimmt ja auch. Annes Hörgeräte gleichen sehr viel aus. Es sind aber vor allem ihr Fleiß und ihr Einsatz, der sie so weit gebracht haben.“
Vor dem Telefonat mit Maria Parthe hatte ich mit deren Schützling telefoniert. Ganz entspannt und überlegt beschrieb die sympathische 34-Jährige ihre Teilnahme an Olympia. Dort hatte Anne Vriesen im Juni mit einer Zeit von 23:20 Minuten die Goldmedaille im 5000-Meter-Lauf der Frauen errungen!
„Ich habe die Zeit in Berlin sehr genossen und mich total gefreut, dass ich so ein beeindruckendes Ereignis miterleben durfte. In der letzten Runde habe ich meinen Namen über den Lautsprecher gehört und dann gar nicht richtig realisiert und geschnackelt, dass ich Gold bekommen hatte.“
Noch immer werde sie von Gästen der Eis Lounge auf diese Leistung angesprochen. Und bei ihrer Rückkehr hatten die Kolleginnen und Kollegen eine große Überraschungsparty organisiert, bei der auch der Vorstand der Josefs-Gesellschaft, Andreas Rieß, und der Geschäftsführer des Benediktushofs, Thomas Spaan, Annes Erfolg feierten.
Anne und Maria vor dem Gold-Lauf.
Vorbereitet hatte sich Anne mit Trainerin Maria beim Inklusions-Lauf-Treff des Benediktushofs, der enorm zur Motivation der jungen Frau beiträgt. „Ich sage immer ganz ehrlich: Ich will alles geben. Aber es gelingt natürlich nicht immer. Das Wichtigste ist, dass man das Laufen genießt“, sagte Anne im Interview und strahlte dabei eine frohe Bescheidenheit aus. Was für eine tolle Geschichte, dachte ich mir, und rief bei Maria Parthe an, um noch kurz ihre Eindrücke zu erfahren.
Als Frühchen geboren
Und dann kam eben jener Moment, der mich in absolutes Staunen versetzte. Annes Leistung ist noch viel enormer als angenommen, denn: „Sie hat ja erst mit vier Jahren überhaupt das Laufen gelernt. Vorher war Anne noch keinen Schritt gegangen.“ In einem Alter, in dem andere Kinder auf Bäume klettern, mit dem Roller rumdüsen oder im Sportverein anfangen, hatte Anne Vriesen mühsam ihre ersten Schritte getan. Geboren als Frühchen mit einer Meningitis musste sie sich ins Leben kämpfen.
Und diesen Kampfgeist hat sie sich erhalten. Als Zehnjährige, da besuchte sie die Grundschule für Gehörlose in Essen, gelang es ihr schließlich, das Fahrradfahren zu lernen. Und mit 17, während der Ausbildung, förderte Gymnastiklehrerin Maria Parthe ihr sportliches Talent. „Der Schwimmunterricht war angekoppelt an die Physiotherapie und da merkte ich schnell, dass Anne ausgeprägt gut ist. Heute schwimmt sie wie ein Fisch“, erinnert sich Maria lachend. Ihr Pflichtbewusstsein und ihr respektvoller Umgang mit anderen Menschen haben in Marias Augen den Weg für Anne geebnet.
Seit 2010 läuft die junge Frau im Inklusions-Lauf-Treff und trainiert dort nach dem Gewinn der Goldmedaille schon fürs nächste Ziel: die Special Olympics World Games 2023 in Berlin. Die erneute Teilnahme bedeutet Anne und Maria viel, waren doch Rücksichtnahme, der Blick auf das Wohlergehen der Athleten und das starke Gemeinschaftsgefühl für beide noch erinnerungswürdiger als die Medaille selbst.
Das Goldstück hat aber natürlich einen Ehrenplatz in Annes Wohnung erhalten. Denn auch ein selbstbestimmtes Leben in ihren eigenen vier Wänden hat Anne sich erkämpft. Mit Unterstützung ihrer Familie, ihrer Kollegen aus der Eis Lounge und nicht zuletzt ihrer Trainerin. „Darum geht es ja bei Olympia: Zusammen können wir etwas bewegen, zusammen sind wir eine große, starke Gemeinschaft.“ Und das, fügt Maria nach einer Pause hinzu, sei für alle Athleten der Schlüssel – ganz egal ob mit oder ohne Handicap.
Fotos: Maria Parthe | Text: Miriam Lethmate
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